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Zur Person
Martin Kamer (* 30. August 1943, † 16. Dezember 2023) ist in Zug aufgewachsen. Mit 19 Jahren bricht er die Grafikerausbildung an der Kunstgewerbeschule in Luzern ab und zieht nach London um Kostüm- und Bühnenbild zu studieren. Dort erlebt er die wilden sechziger Jahre.
Nach dem Diplom kann Martin Kamer – zuerst als Stagiaire, später als künstlerisch Verantwortlicher – mit führenden Regisseuren und Choreografen zusammenarbeiten, unter anderem an den Salzburger Festspielen, der Mailänder Scala, am Teatro Colón in Buenos Aires und anderen wichtigen Bühnen. Über zehn Jahre lang realisiert er mit dem Star-Tänzer Rudolf Nurejew auf der ganzen Welt zahlreiche grosse Ballettproduktionen.
Anfang der siebziger Jahre macht Martin Kamer seine Leidenschaft für Mode und Modegeschichte zum Beruf. Er beginnt historische Kostüme und Kleider zu sammeln, die er zumeist bei Kunstauktionen ersteht, und handelt mit ihnen. Dabei profitiert er von seinen fundierten Fachkenntnissen und kann Beziehungen zu wichtigen Museen knüpfen.
Im Lauf der Jahre entsteht so eine der weltweit bedeutendsten privaten Sammlungen von Mode und Accessoires des 18. bis 20. Jahrhunderts. 2003 kann Martin Kamer grosse Teile seiner Kollektion an das Gewerbemuseum Berlin verkaufen, die dort seit 2014 in einer Dauerausstellung zu sehen sind. Zahlreiche weitere historische Kleidungsstücke der Sammlung Kamer werden 2009 vom Los Angeles County Museum of Art erworben.
2012 gibt Martin Kamer seine Wohnungen in New York und London auf und kehrt nach Zug zurück. Hier pflegt er weiter seine Sammelleidenschaft und ist als Modeexperte mit einer umfassenden Bibliothek sehr gefragt.
Inhalt Teil 1/5
Martin Kamer erzählt von seiner Kindheit im Zug der fünfziger Jahre und von seiner musischen und gastfreundlichen Familie. Er schildert, was ihn in die Ferne gezogen hat und warum er nach über 50 Jahren nach Zug zurückgekehrt ist, dorthin, wo sein Elternhaus stand. Schon immer war sein Umfeld international geprägt; sein Grossvater lebte und arbeitete in Hongkong und Manila. Befreundet war er mit Julius Keiser, der nach seiner Rückkehr aus dem fernen Osten in Zug die Villa Hongkong erbauen liess. Die Mutter verbrachte ihre Kindheit in den USA, der Vater arbeitete in Paris, London und Barcelona.
Schon als Kind spielt Martin Kamer leidenschaftlich Theater und Kleider faszinieren ihn. Die Büste der Grossmutter immer wieder einzukleiden oder für den Teddybären Kleidungsstücke zu entwerfen gehören zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Visuelles und Sprachliches sind seine Stärken, wegen einer Lernschwäche bei Zahlen erlebte er die Schule jedoch traumatisch. Auch die Grafikausbildung in Luzern befriedigt ihn nicht. Eine Nachbarin sagt: «Du musst weg von hier, du bist wie ein Schwan in einer Waschschüssel».
Bei einem Ferienaufenthalt in England entdeckt Martin Kamer eine Kunstschule, an der er lernen kann, was er möchte: Bühnen- und Kostümbildner. Mit Unterstützung des Direktors der Kunstgewerbeschule und mit Zustimmung des Vaters kann er mit 19 Jahren nach London ziehen.
«Ich hatte viel Glück im Leben, ich konnte viel mehr Sachen machen, als ich je gedacht habe», resümiert Martin Kamer. In Zug fühlt er sich heute zuhause, er reist aber immer noch viel und gerne. Am liebsten nach Indien, das «Farbenland par excellence».
Inhalt Teil 2/5
Neben dem Studium an der Central School of Arts and Design geniesst Martin Kamer das Leben im London der sechziger Jahre. Frisch diplomiert – mit spezieller Auszeichnung für Kostümdesign – kann er zweimal bei den Salzburger Festspielen ein Stage machen und lernt in der Theaterwelt viele Leute und grosse Namen kennen, die ihn weiterbringen. Als Research Assistent am Royal Opera House im Covent Garden trifft er auch den berühmten russischen Tänzer Rudolf Nurejew und entwickelt für dessen Compagnie ein spezielles Tutu.
Später kann er dank einer schlauen Strategie bei einer Balletproduktion von Nurejew an der Mailänder Scala mitwirken. Als Assistent arbeitete er für den russischen Star, bis er nach zehn Jahren eigene Aufträge für Bühnenbild, Kostüme und später auch für Filmsets erhält. Martin Kamer weiss viele Anekdoten über den grossen Nurejew zu erzählen; er hat ihn als Menschen erlebt mit grosser Ausstrahlung, vielseitigen Interessen, aber teilweise kommunikativ schwierig; eine Art Popstar, der auch unter Einsamkeit litt.
Dank seiner Bekanntheit in der Ballettwelt kann Martin Kamer mit vielen anderen Tanztruppen, Choreografen und Regisseuren zusammenarbeiten. Doch mit 35 erkennt er, dass sich in diesem Business kein Geld verdienen lässt. Er beschliesst, sich auf sein Spezialgebiet, die Geschichte der Mode, zu konzentrieren.
Inhalt Teil 3/5
Martin Kamer hat schon immer gesammelt, vor allem als Inspiration. Die Architektur des Kleides, der Schnitt interessiert ihn. Zum Handeln ist er schrittweise gekommen: Zuerst waren es kleine Stickereien und Spitzen, später ist er richtig eingestiegen als Händler und Sammler von historischer Kleidung. Dank seiner Bekanntschaft mit Nurejew lernt er wichtige Personen am New Yorker Metropolitan Museum kennen und kann die Institution als Käuferin gewinnen. Auch mit anderen Museen arbeitet er zusammen, etwa als Co-Kurator am Kyoto Costume Institute. Der Katalog zur Ausstellung ist für ihn noch immer einer der schönsten, die publiziert wurden.
Eigentlich will Martin Kamer gar nie verkaufen, sondern sammelt vorwiegend für sich. Neben historischen Kleidern auch Schuhe, Hüte, Taschen, Strümpfe, Krawatten, Hemden, Nachthemden, Kopfputze. Später kommen Modelle der Modeschöpfer des 20. Jahrhunderts dazu. In den Wohnungen in Manhattan und London wird es immer enger. Die weltweit grösste private Sammlung von Mode und Accessoires wächst heran. «Am Anfang ist man Herrscher seiner Sammlung», sagt Martin Kamer, «aber irgendwann kommt ein Kipppunkt und plötzlich beherrscht die Sammlung dich.»
Motten, Feuer und Wasser sind die Feinde der Stoffe. Martin Kamer blieb davon nicht verschont, so wäre kurz vor dem Verkauf die Sammlung fast einem Brand zum Opfer gefallen.
2003 erwirbt das Kunstgewerbemuseum in Berlin grosse Teile der Bestände mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder. (Anmerkung: Seit 2014 sind die Objekte ausgestellt.) Martin Kamer freut sich, dass die Sammlung zusammenbleibt. Nur so erzählen die einzelnen Stücke eine Geschichte. Allerdings hätte er gerne mit dem Museum enger zusammengearbeitet und einen schöneren Katalog produziert. Beim Verkauf an das Museum in Los Angeles hat er bessere Erfahrungen gemacht.
Die Objekte stammen aus der Zeit zwischen 1715 und 2000. Frühere Stücke sind rar und teuer, aber Martin Kamer ist es gelungen ein Damenoberteil von 1605 und ein Männerwams von 1630 zu erstehen. Manchmal kommt auch der erfahrene Käufer ins Auktionsfieber.
Faszinierend an der Mode ist für Martin Kamer das künstlerische Handwerk, und auch die damit verbundenen Erfindungen und Techniken. Der Experte kann anhand von Details genau erkennen, aus welcher Zeit ein Kleidungsstück stammt. Oft spielt bei einem Kauf auch der glückliche Zufall mit, etwa wenn zwei Teile des gleichen Kleides unabhängig auftauchen, oder wenn sich ein vermeintlich nachgeahmtes Kleid als Original entpuppt. Kleider von Prominenten interessieren Martin Kamer dagegen selten, ausser es handelt sich an ein Geschenk der portugiesischen Königin an Königin Viktoria von England.
Gesammelt wird alles was mit Mode zu tun hat, bei Kleidern allerdings nur besondere Zeitzeugen und herausragende Modelle, daneben auch Schriften, Originalzeichnungen (zum Beispiel Entwürfe für Kupferstiche), Fotografien und Daguerreotypien. Das Archiv ist eine Fundgrube für Kunstwissenschaft, Kuratorinnen und Kuratoren.
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Mit Sammeln hat Martin Kamer früh begonnen und seine Mutter damit oft zur Verzweiflung gebracht. Schon in der zweiten Klasse wusste er, was er werden will: Christian Dior. Die Faszination für den damals grössten Modeschöpfer hat allerdings nachgelassen. Wie viele andere sei Dior anfänglich innovativ gewesen, dann aber immer konventioneller und abgehobener geworden.
Bei seinem persönlichen Kleidungsstil schätzt Martin Kamer Farben und schöne Schuhe, die er oft auf Reisen kauft. In Sachen Kunst mag er die «Art premier», beispielsweise Klosterarbeiten mit religiösen Motiven, aber auch Masken, surrealistische Puppen oder indische Malerei.
Beim Kauf gilt als Kardinalregel: nur Objekte in sehr gutem Zustand. Ausser bei Raritäten, die restaurierbar sind. Im Textilbereich braucht es dafür Spezialisten. So auch für das Waschen von Historischem. Ein verstaubtes Kleid kann sich danach durchaus als Prachtstück entpuppen.
Als Händler stand Martin Kamer oft in Konkurrenz mit anderen. Mit einem seiner grössten Widersacher arbeitet er inzwischen zusammen und hat ihn schätzen gelernt. Dieser hat sogar den Handel mit dem Berliner Museum eingefädelt. Erlebnisse zu teilen und über einen Fund zu diskutieren, ist interessanter als alleine zu arbeiten.
Besonders rare, günstig erworbene Stücke hat Martin Kamer oft niemandem gezeigt. Das waren seine stillen Reserven, quasi die Pensionskasse.
Die Interessen haben sich im Laufe der Zeit stark verändert. So widmet sich Martin Kamer jetzt systematisch seiner Sammlung von Daguerreotypien, die 30 Jahre lang in einer Schachtel gelegen hat.
Auch über seien Nachlass macht sich Martin Kamer Gedanken. Vielleicht eine Schenkung an ein Museum oder Verkauf der Bibliothek. Wichtig ist ihm weiterzugeben, was man nicht mitnehmen kann. Er freut sich, dass er etwas geleistet hat, dass man ihn in Fachkreisen ernst nimmt und wenn jemand bei ihm etwas entdeckt. Langweilig würde es ihm auch ohne seine Objekte und Bücher nie. Es reizt ihn eigentlich, nochmal etwas ganz anderes anzufangen.
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Modesammler Martin Kamer zeigt Bilder und Objekte aus seinem Archiv.
Aufnahmedatum: 11. September 2013
Aufnahmeort: Zug
Produktion: Remo Hegglin
Postproduktion: Max Pfeffer
Text: Beat Holdener
Weblinks
Mehr zu sehen und hören mit Martin Kamer: